Als oberste Lehrerin der Schweiz wünscht sich Dagmar Rösler mehr gesellschaftliche Anerkennung für den Lehrerberuf.
Als oberste Lehrerin der Schweiz wünscht sich Dagmar Rösler mehr gesellschaftliche Anerkennung für den Lehrerberuf. (zvg)
Bildung

«Der Lehrerberuf steht zu Unrecht in einem schlechten Licht»

Der Lehrerberuf hat ein Imageproblem. Zu Unrecht, findet Dagmar Rösler, die oberste Lehrerin der Schweiz. Im Interview äussert sie sich zum akuten Lehrpersonenmangel und zu den schönen Seiten ihres Berufs.

Interview: Andreas Zurbriggen

Dagmar Rösler, das Phänomen des Lehrpersonenmangels ist so alt wie die Volksschule selbst. Was ist heute anders als in früheren Zeiten?
Momentan sind wir mit schnell steigenden Schülerzahlen konfrontiert und zugleich gehen viele Lehrpersonen aus der Babyboomer-Generation in Pension.

Auf welchen Stufen herrscht derzeit Lehrpersonenmangel?
Er zieht sich durch das ganze Bildungssystem. Akut ist er auf der Primarstufe und je nach Fach auch auf der Sekundarstufe.

Liegt es daran, dass die Lehrpersonen nicht lange im Beruf bleiben?
Gemäss einer aktuellen Studie des Bundesamtes für Statistik bleiben Lehrpersonen ihrem Beruf relativ treu, reduzieren aber oftmals aus verschiedenen Gründen ihr Pensum. Ab 55 Jahren kann man aber ein Verlassen des Berufes beobachten.

Sind die Teilzeitpensen das Problem?
Lehrpersonen, die Teilzeit arbeiten, machen dies in erster Linie wegen ihrer Familie. Wer Affinität zu Kindern hat, möchte oftmals gerne auch die eigenen aufwachsen sehen. Ein besseres Angebot an externen und bezahlbaren Kinderkrippen könnte die Situation entschärfen. Lehrpersonen im Teilpensum nehmen jedoch auch eine wichtige Rolle ein, wenn es darum geht, kurzfristig für eine andere verunfallte oder kranke Lehrperson einzuspringen. Dies sollte bei dieser Thematik nicht vergessen gehen.

Inklusion gilt im Schweizer Bildungssystem als Königsweg. Werden Lehrpersonen von heterogenen Klassen überfordert, in denen Hochbegabte gemeinsam mit Kindern unterrichtet werden, die kaum Kenntnis der Unterrichtssprache vorweisen?
Volksschulen sind die letzte Klammer der Gesellschaft. Viele Lehrerinnen und Lehrer unterstützen den inklusionsorientierten Gedanken. Mit der grossen Heterogenität in den Schulen kommt man aber schon auch an seine Grenzen.

Was könnte dagegen unternommen werden?
Eigentlich müssten unter den bestehenden Bedingungen die Klassen kleiner sein, um wirklich auf individuelle Bedürfnisse eingehen zu können. Ausserdem wäre es ideal, in einem Team-Teaching unterrichten zu können, bei dem ständig zwei Lehrpersonen im Klassenraum anwesend sind.

Könnten damit Junglehrpersonen davon abgehalten werden, aus dem Beruf auszusteigen?
Wir wissen, dass die heikle Phase während des Berufseinstiegs stattfindet. Daher ist es sehr wichtig, dass gerade junge Berufseinsteiger ein gutes Mentoring erfahren.

«Die derzeitigen Probleme lassen sich sicher nicht allein auf die Migration schieben.»

Passiert das bereits?
In einigen Kantonen ja. Selbstverständlich werden junge Lehrpersonen auch von ihren Teamkolleginnen und -kollegen unterstützt. Es braucht eine strukturierte und institutionalisierte Begleitung von Junglehrpersonen, damit diese in der schwierigen Phase des Berufseinstiegs entsprechende Unterstützung erhalten.

Wie sehr spielt die Migration eine Rolle, dass Lehrpersonen sich überfordert fühlen und die Freude an ihrem Beruf verlieren?
Klar ist es nicht immer einfach, eine Klasse zu unterrichten, in der verschiedene Sprachen und Kulturen aufeinandertreffen und dabei allen gerecht zu werden. Die derzeitigen Probleme lassen sich aber sicher nicht allein auf die Migration schieben.

Für die ukrainische Kinder wurden sogenannte Willkommensklassen eingerichtet, in denen diese separat unterrichtet wurden, um zuerst die Sprache lernen zu können. Müssten noch mehr solche Mass­nahmen ergriffen werden?
Die Sprache ist das Tor zur Welt. Auch Kinder, die hier aufwachsen, kommen oftmals bis zu ihrer Einschulung wenig mit einer Schweizer Landessprache in Kontakt. Daher müsste noch vermehrt Gewicht auf Frühförderung gelegt werden, um sprachliche Defizite aufzuholen.

Immer wieder taucht im Zusammenhang mit dem Lehrpersonenmangel auch die Frage nach dem Lohn auf, der kantonal geregelt wird. Müsste da etwas verändert werden?
Der Lohn ist ein wichtiger Aspekt der Wertschätzung, aber nicht das Hauptargument, weshalb jemand Lehrperson wird. Damit sich Kantone nicht gegenseitig die Lehrpersonen abwerben, wäre in meinen Augen eine gewisse Angleichung sicher sinnvoll.

Zur Person

Dagmar Rösler ist seit 2019 Zentralpräsidentin des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer (LCH). Neben ihrer Funktion beim LCH unterrichtet die ausgebildete Lehrerin wöchentlich zwei Lektionen bildnerisches Gestalten an einer Primarschule.

Was bräuchte es, dass der Lehrer­beruf wieder attraktiver wird?
Der Lehrerberuf steht momentan zu Unrecht in einem schlechten Licht. Das Ansehen des Berufes müsste wieder steigen. Noch immer hat man als Lehrperson nämlich einen unglaublich kreativen und abwechslungsreichen Beruf mit viel Handlungsspielraum. Die Kinder und Jugendlichen kann man in einer wichtigen Phase ihres Lebens massgeblich prägen und bekommt im Berufsalltag viel von ihnen zurück.

Was müsste am Schweizer Schulsystem verändert werden?
Unser Schulsystem hat sich seit seiner Einführung vor 150 Jahren in seiner Struktur kaum verändert. Inhaltlich ist aber sehr viel passiert. Glücklicherweise hat sich das Verständnis gegenüber den Kindern und Jugendlichen verändert. Trotzdem müssen wir uns fragen, wie die Schule von morgen ausgestaltet werden soll, damit wir die Kinder auf ihr späteres Leben möglichst gut vorbereiten können.

«Ideal wäre, in einem Team-Teaching unterrichten zu können, bei dem ständig zwei Lehr­personen im Klassenraum anwesend sind.»

Wie kann das gelingen?
Da gibt es keine einheitliche Lösung, die für alle stimmt. In den Schulen wird viel darüber nachgedacht und verschiedene Modelle und neue pädagogische Ansätze in den Schulalltag integriert.

Sollten Noten abgeschafft werden, damit Lehrpersonen weniger Druck von Eltern verspüren?
Ich bin mir nicht sicher, ob die Abschaffung der Noten die Lehrpersonen diesbezüglich entlasten würde. Es geht ja bei der Thematik eher darum, wie man Schülerinnen und Schülern eine differenziertere Rückmeldung zu ihren Leistungen machen kann.

Wie können Sie vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer überhaupt Einfluss auf den Bildungsdiskurs nehmen?
Im vergangenen Herbst haben wir den Aktionsplan Bildungsqualität lanciert. Vor allem erscheint uns wichtig, dass der Beruf nicht beliebig wird und dass gut ausgebildete Lehrpersonen vor der Klasse stehen. Leute, die sich für den Lehrerberuf interessieren, müssen wir davon überzeugen, an einer PH eine Ausbildung zu machen.

Braucht es mehr Marketing für den Lehrerberuf?
Bis jetzt ist es uns leider nicht gelungen, die Komplexität dieses Berufes adäquat darzustellen. Schule ist mehr als das Einmaleins lernen. Als Lehrperson braucht es sehr viel psychologisches Feingefühl, um auf die Fähigkeiten, Talente und auch auf die persönliche Situation der einzelnen Schülerinnen und Schüler eingehen zu können. Letzten Endes ist es aber unglaublich, was man in diesem Beruf bewirken kann und auch sehr erfüllend, wenn es einem gelingt, in den Augen der Schüler eine gute Lehrperson zu sein.

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